Chronische Erkrankungen im Handwerk – exemplarische Bestandsaufnahme von Reha-Bedarfen, Reha-Zugang und Teilhabesicherung bei Bremer Handwerkswerksbetrieben. Strategien zur Unterstützung der Betriebe (ReHand)

Projektförderung:DRV Oldenburg-Bremen
Projektlaufzeit:01.07.2023 – 31.12.2025

Projektteam:
Prof.i.R. Dr. Ernst von Kardorff
Dr. Wolfgang Hien
Kristina Enders, M.A. (cand.phil.)
Valery Kallmeyer (stud. Mitarbeiterin)
Amy Stelter (stud. Mitarbeiterin)

Hintergrund

Aufgrund des demografischen Wandels und des Fachkräftemangels wird es für Unternehmen immer wichtiger, die Arbeitsfähigkeit alternder Belegschaften zu erhalten und gesundheitlicher Prävention und Rehabilitation einen größeren Stellenwert beizumessen; hinzu kommen politische Zielsetzungen wie die Inklusion von Beschäftigten mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen/Behinderungen und eine möglichst weitgehende Vermeidung von EM-Renten. Während größere KMUs und Großbetriebe diese Herausforderungen zunehmend erkannt haben und mit BGF und BGM-Strategien, wie der Motivation zur Inanspruchnahme der Ü-45 Checks präventiv und, bezogen auf die Wiedereingliederung chronisch erkrankter Beschäftigter mit einem eigenen BEM Management reagieren (können), ist dies bei den meist kleinen Handwerksbetrieben die Ausnahme. Für Kleinst- und KMU-Betriebe des Handwerks sind längere krankheits- und unfallbedingte Fehlzeiten eine besondere Herausforderung, die erst ansatzweise thematisiert wird. Viele Unternehmen wie auch Beschäftigte im Handwerk tendieren zudem aufgrund arbeitskulturspezifischer Tendenzen zur Verdrängung von Krankheit, Beschäftigte zum Präsentismus und zum Beschweigen gesundheitlicher Beeinträchtigungen. Trotz individueller Ausnahmen scheint in großen Teilen des Handwerks ein „Alles-oder-Nichts“-Prinzip (leistungsfähig = beschäftigt; chronisch krank = keine Weiterbeschäftigung oder Abfindungsregelungen) vorzuherrschen; zudem wird das Thema Krankheit – trotz eines hohen Problemdrucks – oft nur unter der Hand angesprochen, zumeist aber verdrängt oder erst aufgegriffen wenn „das Kind schon in den Brunnen gefallen ist“. Manche Handwerksbetriebe haben für sich gute Lösungen gefunden, doch diese „models of good practice“ sind oftmals nicht einmal in der gleichen Wirtschafsbranche bekannt und die Bedingungen für eine Übertragung unklar. Mit Blick auf eine gesundheitsbedingt erforderliche Anpassung von Arbeitsbedingungen lassen sich z.B. die Verringerung von Arbeitszeiten oder die Umsetzung auf leidensgerechte Arbeitsplätze oder deren Einrichtung aus betrieblichen Gründen in kleineren Betrieben, wie sie im Handwerk die Regel darstellen, wegen mangelnder Ressourcen und Kenntnisse oder aufgrund der Betriebsabläufe nur sehr schwer und wenn überhaupt nur mit Hilfe von außen (z.B. Integrationsfachdienst; Integrationsamt; Berufsgenossenschaft; Reha-Fachberatung) realisieren. Eine Folge dieser knapp skizzierten Situation ist, dass eine (sekundärpräventive) Inanspruchnahme von medizinischen und beruflichen Rehabilitationsleitungen oftmals gar nicht oder zu spät erfolgt. Mit Blick auf die Wiedereingliederung in Arbeit und die nachhaltige Beschäftigungssicherung nach langer krankheitsbedingter Abwesenheit zeigt sich, dass z.B. formale BEM-Verfahren im Handwerk nur selten durchgeführt werden und eine gelingende Rückkehr in Arbeit stark vom Engagement einzelner Betriebsinhaber/innen abhängt. Informationen zu Reha-Angeboten sind oft nicht bekannt oder die Beantragung von Hilfen erscheint zu bürokratisch. Institutionell verankerte und spezifisch auf die Belange des Handwerks zugeschnittene Unterstützungsmöglichkeiten für Kleinst- und Kleinbetriebe fehlen fast vollständig, die Einbindung in entsprechende Netzwerke oder institutionalisierte Kontakte zu Beratungsstellen und Klinikambulanzen sind bislang die Ausnahme. Diese unbefriedigende Situation sowohl beim Zugang zu medizinischer und beruflicher Rehabilitation als auch beim Management der Wiedereingliederung und einer nachhaltigen Beschäftigungssicherung nach langen Zeiten der Behandlung und Rehabilitation bildet den Ausgangspunkt unseres Forschungsvorhabens, an dessen Beginn eine Feststellung einschlägiger Unterstützungsbedarfe für Handwerksbetriebe und der Reha-Bedarfe ihrer Beschäftigten steht. Dabei stehen die konkreten Erfahrungen und Einschätzungen der Beteiligten bei der Erhebung im Vordergrund, ergänzt durch die Perspektiven der jeweiligen institutionellen Interessenvertretungen (Handwerkskammer und Innungen; Arbeiterkammer, Gewerkschaften), institutionelle Kooperationspartner (Renten- und Unfallversicherung, Inklusionsamt) und von Experten/innen (Betriebsärzte, Reha-Kliniken, Reha-Fachberatung, Integrationsfachdienste, usw.). Inzwischen gibt es einige wenige Beispiele guter Praxis wie die schon vor Jahrzehnten vom Hamburger Senat finanzierte Beratungsstelle „Arbeit & Gesundheit e.V.“(www.arbeitundgesundheit.de) oder das regional gut vernetzte Projekt esa e.V. in Schleswig (www.esa-sh.de), das allerdings noch wenig bekannt und in seiner Übertragbarkeit begrenzt ist oder wie die Peer-Beratung verunfallter Beschäftigter durch die Berufsgenossenschaften (z.B. www.bgbau.de), die sich auf ein bestimmtes Handlungsfeld beschränken. Einige vielversprechende Ansätze im Rahmen der seit 2019 in der Praxis aktiven Bundesmodellförderung des Reha-Pro-Programms wie Beratungs- und Vermittlungsangebote wie „Blaufeuer“ für Arbeitnehmer/innen mit psychischen Problemen oder der von der DRV Oldenburg-Bremen ebenfalls für Menschen mit psychischen Störungen und/oder Suchtproblemen entwickelte „rehacompass“ oder das ebendort initiierte BASE-Programm, das zur Inanspruchnahme medizinischer Rehabilitation ermutigen soll, sind wichtige Bausteine für eine hilfreiche Brückenkonstruktion für erkrankte Beschäftigter beim Zugang zur Rehabilitation wie auch bei der Rückkehr in Arbeit, deren bisherige Erfahrungen in unsere Studie einbezogen werden sollen. Unsere Studie widmet sich exemplarisch der bislang in Forschung und Praxis kaum berücksichtigten speziellen Situation im Handwerk und den dort zu ermittelnden Unterstützungsbedarfen.

Wissenschaftliche und praxisbezogene Ziele

(1) Erstellung einer detaillierten und exemplarischen Bestandaufnahme der Problemlagen bei Handwerksbetrieben im Zusammenhang mit langanhaltenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Dazu gehören z.B. die Nutzung von Maßnahmen zur Früherkennung von chronischen Krankheiten und der Umgang mit chronisch erkrankten oder von Unfallfolgen betroffenen Mitarbeiter/innen und Vorgehensweisen bei der (Wieder-)Eingliederung nach Krankheit aus Sicht der Betriebe und der Beschäftigten.

Die Bestandsaufnahme erfolgt mittels eines Online-Fragebogens, der in Kooperation mit der HWK-Bremen an 5000 Bremer Handwerksbetriebe versandt wird sowie durch ausgewählte Interviews mit Betriebsinhabern/innen, betroffenen Mitarbeitern/innen und ihren Kollegen/innen. Ergänzend werden ausgewählte Vertreter/innen der Handwerkskammer, der Innungen, der Arbeitnehmerkammer, sowie Experten/innen der Rentenversicherung, der Berufsgenossenschaften und des Inklusionsamts sowie Fachkräfte von Integrationsfachdiensten, der Arbeitsagentur, der Reha-Fachberatung, der Reha-Kliniken und anderer Beratungseinrichtungen befragt.

(2) Auf der Grundlage von fünf exemplarischen Betriebsfallstudien in Branchen mit hohen AU-Zeiten und EM-Berentungen sollen die konkreten Problemlagen und unterschiedliche, erfolgreiche und gescheiterte Umgangsformen und Problemlösungen der Betriebe und Beschäftigten vertieft erhoben und betrachtet werden; dabei geht es besonders um branchenspezifische Besonderheiten und externe Unterstützungsbedarfe zur Gestaltung innerbetrieblicher von allen Beteiligten grundsätzlich akzeptierte und realistische Lösungsansätze und Unterstützungserwartungen.

Die exemplarischen Betriebsfallstudien sollen bei fünf Handwerksbetrieben aus Branchen mit besonders hohen Risiken für AU-Zeiten durchgeführt werden, im Baugewerbe, im Maler- und Bäckerhandwerk, bei Sanitär-, Heizung- & Klimatechnik sowie in der Reinigungsbranche. Das Besondere der Betriebsfallstudien ist, dass die Gespräche mit den Inhaber/innen und Mitarbeiter/innen vor Ort im Betrieb im Kontext der Betriebsabläufe und des betrieblichen Umfelds (Arbeitsplätze, Arbeitsaufgaben, etc.) geführt werden um dabei z.B. konkrete Probleme wie die Möglichkeiten zur leidensgerechten Arbeitsplatzgestaltung oder der innerbetrieblichen Umsetzung oder Verteilung von Arbeitsaufgaben zu erörtern und über konkrete Umgangsformen und Lösungen bei bisherigen Krankheitsfällen und Rückkehrprozessen zu sprechen. 

(3) In drei Fokusgruppen und einem Workshop mit den Betrieben, betroffenen Beschäftigten und den institutionellen Akteur/innen sollen partizipativ Strategien und Lösungsansätze entwickelt  und auf ihre regionale und betriebliche Umsetzungsmöglichkeit und Akzeptanz hin überprüft werden.

Z.B. die Kooperation von Betrieben/HWK mit am Case-management orientierten Beratungsstellen („Lotsen“), Ansprechstellen an Reha-Kliniken, mit der Reha-Fachberatung, überbetrieblichen betriebsärztlichen Angeboten, Reha-Kliniken und Anbietern von (Beratungs-)Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Im Workshop geht es dann konkret darum, wie erstens eine generelle, aber auch problemspezifische und zeitnahe Beratung der Betriebe durch HWK und Innungen, durch den Firmenservice der DRV und BGs zum Thema Umgang mit Krankheit im Betrieb ausgestaltet werden sollte und wie zweitens und spezifischer für die betroffenen Handwerker/innen ein unkompliziert gebahnter Weg zum Reha-System gestaltet werden kann, etwa zur Abklärung eines möglichen individuellen Reha-Bedarfs etwa durch eine Beratungsstelle die als „Lotse“ im System fungiert, durch  Ansprechstellen an Reha-Kliniken, Reha-Fachberatung, usw.

(4)  Entwicklung praxisnaher und von den Betrieben akzeptierter Handreichungen mit Informationen und Ansprechpartnern sowie Praxistipps für die Organisation externer Unterstützung. Darüber hinaus werden auch Empfehlungen erarbeitet, wie eine institutionelle Verankerung eines rechtzeitigen Reha-Zugangs und entsprechender Hilfen bei der Rückkehr in Arbeit speziell für das Handwerk gestaltet werden sollten.

Hierbei werden auch Erfahrungen aus bereits bestehenden Modellen und Ansätzen aus vorhandenen Dokumentationen und ausgewählten Interviews mit Projektbeteiligten herangezogen. Insbesondere wird hier auch auf Beratung und Unterstützung der Firmeninhaber/innen fokussiert; letzteres betrifft nicht nur geeignete Informationsformate, sondern auch konkrete Unterstützung etwa bei der Beantragung von Arbeitsgeberzuschüssen für die (Weiter-) Beschäftigung gesundheitlich beeinträchtigter Mitarbeiter/innen, die Ausgestaltung leidensgerechter Arbeitsplätze, ggf. ein Jobcoaching beim Wiedereinstieg in Arbeit, usw.

Der erwartete Erkenntnisgewinn des Projekts besteht in einem vertieften Wissen der Informations-, Beratungs- und Unterstützungsbedarfe und der Bedingungen ihrer Akzeptanz bei Kleinst- und Kleinbetrieben und ihrer Beschäftigten im Falle von langandauernden krankheitsbedingten Fehlzeiten, bei gesundheitsbedingter Leistungsminderung und nach Rückkehr in Arbeit nach Rehabilitationsmaßnahmen. Dies wird exemplarisch am Beispiel Bremer Handwerksbetriebe untersucht, wobei Bedingungen für eine Übertragbarkeit auf andere Regionen und auf andere Kleinst- und Kleinbetriebe außerhalb des Handwerks benannt werden sollen. Ein besonderes Augenmerk richtet sich dabei präventiv auf verbesserte Möglichkeiten zur rechtzeitigen Inanspruchnahme von medizinischer Rehabilitation oder von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sowie auf erforderliche und Hilfen für Betriebe und ihre Mitarbeiter/innen bei der (Wieder-)Eingliederung in Arbeit unter Bedingungen bedingter Gesundheit.  Praxisbezogen werden praxisbezogene Informationsmaterialien und Handreichungen entwickelt, die in einem partizipativen Prozess so gestaltet werden, dass sie von Handwerksbetrieben nicht nur akzeptiert, sondern auch genutzt werden können; parallel dazu sollen für die Gesundheitsdienstleister in der Rehabilitation Informationen bereitgestellt werden, die ein Verständnis für die spezifischen Belange von Kleinbetrieben des Handwerks vermitteln und entsprechende „Do´s and Dont´s“ enthalten. Mit Blick auf die Überwindung von Schnittstellen werden Empfehlungen für niedrigschwellig aufzubauende und zu verstetigende Infrastrukturen zur routineförmigen Unterstützung von Kleinst- und Kleinbetrieben im Handwerk für die Information und Beratung im Kontext von chronischen/chronifizierten Krankheiten entwickelt.

Ansprechpartner: Prof. i.R. Dr. Ernst von Kardorff; E-Mail: kardorff@bws-institut.de