Wege psychisch Kranker in die EM-Rente und Rückkehrperspektiven aus der EM-Rente in Arbeit (WEMRE)

Projektleitung:Prof. i.R. Dr. Ernst von Kardorff
Projektförderung:Gefördert von der Deutschen Rentenversicherung Bund, durchgeführt in Kooperation mit der DRV Bund, der DRV Berlin-Brandenburg und der DRV Westfalen
Projektlaufzeit:01.04.2017-30.09.2020

Hintergrund

Seit 2001 sind psychische Störungen der häufigste Grund für die Bewilligung einer EM-Rente. Während im Jahr 2000 lediglich 24,2% aller EM-Berentungen aufgrund psychischer Beeinträchtigungen erfolgte, betrug ihr Anteil im Jahr 2014 bereits 43,1%.[1] Die Haupt-diagnosen sind dabei mit ansteigender Tendenz affektive Störungen, v.a. Depressionen und Angststörungen. Alle anderen F-Diagnosen zeigen eine nur geringe Zunahme bzw. sind seit Jahren stabil.[2] Bei Frauen war fast die Hälfte der psychisch bedingten Frühverrentungen im Jahr 2012 auf Depressionen zurückzuführen, bei Männern standen Alkoholerkrankungen an zweiter Stelle nach Depressionen.[3] Die zunehmende Anzahl von EM-Renten aufgrund psychischer Störungen erweist sich als eine rehabilitationsökonomische und präventions-politische Aufgabe und als eine psychologische und soziale Herausforderung bezogen auf die Betroffenen sowie als Herausforderung für das ärztliche, psychologische und rehabilitative Versorgungssystem; insbesondere bezogen auf die Frage nach frühzeitigen und akzeptierten Rehabilitationsangeboten zur Vermeidung frühzeitigen Ausscheidens aus dem Berufsleben.

Analyse der biografischen Krankheits-Verlaufskurven und des Inanspruchnahmeverhaltens bis zum Rentenantrag

Fast immer geht der Antragstellung auf eine EM-Rente eine lange Vorgeschichte mit einer oft schleichenden Krankheitsentwicklung voraus. Parallel geht dies häufig mit einem sozialen Abstieg, negativen Ereignissen im sozialen Umfeld, biografischen Abwärtsspiralen und sozialer Diskriminierung einher (v. Kardorff 2010). Subjektiv drückt sich dies in „Verlaufskurven des Erleidens“ (Schütze 2006, S. 205-237) aus. Diese Entwicklungen zeigen sich u.a. in langen AU-Zeiten, häufigen kündigungsbedingten Stellenwechseln, langem Krankengeldbezug, längerfristiger Erwerbslosigkeit und einer institutionenabhängigen Lebenslage (vgl. IAB 2013). Am Ende einer solchen abwärts gerichteten Entwicklung nehmen viele Betroffene entweder die Empfehlung einer EM-Rentenantragstellung als Erleichterung an oder bemühen sich selbst aktiv um eine EM-Rente, da sie aufgrund von Enttäuschungen oder negativen Gesundungs- und Beschäftigungserwartungen die Hoffnung auf eine Rückkehr in Arbeit aufgegeben haben (vgl. Schubert et al. 2013) oder andere Alternativen (Beschäftigung in einer WfbM, Selbständigkeit, Umschulung, usw.) nicht (mehr) in Erwägung ziehen. Das ist vermutlich auch ein Grund dafür, dass nur etwa die Hälfte (54%) der wegen psychischer Krankheit vorzeitig berenteten Personen im Vorfeld eine medizinische Rehabilitation in Anspruch genommen haben (DRV Bund 2015). Zur vorherigen Inanspruchnahme psychiatrischer oder psychotherapeutischer Behandlungen dieser Personengruppe liegen aber keine systematischen Daten vor. Hierzu erwarten wir uns konkrete Hinweise in der geplanten Studie.

Spezielle Fragestellungen

Mit der skizzierten Situationsbeschreibung verbinden sich Fragen nach den Ursachen für eine mangelnde und in der Regel zu späte Inanspruchnahme von Hilfen, nach (biografisch, psychologisch und sozial) geeigneten Zeitpunkten für Angebote und für Anreize zur Inanspruchnahme von gezielten und individuell passgenaue Hilfeformen, um mit den Betroffenen gemeinsam nach Alternativen zu einer EM-Rente zu suchen. Dies ist sowohl aus versorgungsökonomischer Perspektive, aus psychologischen Gründen, aus altersspezifischen (EM-Rentenbezieher wegen psychischer Erkrankungen sind im Durchschnitt zwei Jahre jünger als der Rest der EM-Rentner) und aufgrund sich oft verschlechternden Krankheitsverläufen innerhalb des EM-Rentenbezugs von Bedeutung. Trotz des inzwischen umfangreich vorliegenden deskriptiven epidemiologischen Wissens und in der Literatur breit diskutierter Hypothesen und Erklärungsmodelle zur Zunahme psychischer Erkrankungen (Lohmann-Haislah 2012; Loisel & Anema 2103; Siegrist 2015) besteht auch nach einer ersten Sichtung des internationalen Forschungsstandes bislang nur ein sehr geringes Wissen:

  • über die subjektiven Anlässe und Motive zu einer krankheitsverlaufsbedingt erzwungenen, durch ärztliche oder trägerseitig empfohlenen oder selbst initiierten EMRentenantragstellung;
  • über die lebensgeschichtlichen und lebenslagenspezifischen Konstellationen und subjektiven Wahrnehmungen der eigenen Belastungsfähigkeit sowie der subjektiv eingeschätzten Zukunftsperspektiven zum Zeitpunkt der Antragstellung;
  • zu den (berufs)biografischen Verlaufskurven im Spannungsverhältnis zwischen erzählter/erlebter und chronologischer Lebens, Krankheits- und Berufsgeschichte im Kontext anderer kritischer Lebensereignisse (Abbrüche von Bildungskarrieren, Kündigungen, Erwerbslosigkeit, Scheidungen, verlorene soziale Einbindung);
  • zu den geschlechtsspezifischen und individuellen Bearbeitungsmustern und Lebensstrategien insbesondere mit Blick auf Aufrechterhaltung der Beschäftigung und der Rückkehrperspektiven in Arbeit;
  • zur ersten Wahrnehmung von Krankheitssymptomen und deren subjektiver Deutung bis zur sozialen Sichtbarkeit der psychischen Beeinträchtigungen in Familie und Beruf über Formen der Selbstbehandlung und des Präsentismus bis zur Inanspruchnahme etwa von ambulanter ärztlicher oder psychotherapeutischer Behandlung;
  • zu den geschlechtsspezifischen Deutungs, Verhaltens- und Entscheidungsmustern und deren Begründungsformen beim Weg in die EM-Rente und im Zeitraum nach der Bewilligung;
  • zur Rolle erlebter Stigmatisierung und Diskriminierung mit Blick auf Veröffentlichungs­bereitschaft (v.a. im Betrieb) und Inanspruchnahme therapeutischer Hilfe;
  • zur Rolle verfahrensbedingter Einflüsse des medizinischen und rehabilitativen Systems (Erkennen des Rehabilitationsbedarfs, rechtzeitige Beratung und Zuweisung) sowie der Leistungsträger für die Wahl einer EMAntragsstellung.

Feldzugang, qualitativer Forschungsansatz

Die vorhandenen Lücken des Forschungsstandes und die daraus resultierenden und hier fokussierten Fragestellungen bilden den Ausgangspunkt unserer Verlaufsstudie, die anhand von drei vollständigen Monatskohorten von erstmaligen EM-Rentenbeziehern/-innen der DRV-Bund, der DRV-Berlin-Brandenburg und der DRV-Westfalen wegen einer vorrangigen F-Diagnose (F-30 und F-40) die individuellen Wege in die EM-Rente und den Verlauf bis zur Weiterbewilligungsüberprüfung nachzeichnen will. Dazu werden auf der Basis eines Kurzfragebogens an alle neunen EM-Rentenbezieher/-innen diejenigen Personen ausgewählt, die sich zu persönlichen Gesprächen bereiterklärt haben. Um den gesamten Verlauf – angefangen von den ersten Symptomen bis zur Rentenantragsstellung und -bewilligung bis etwa 16 Monate nach Bewilligung – zu dokumentieren, werden (episodisch-narrative) Interviews zu drei Zeitpunkten (t₁ = Interview 6 Monate nach Bewilligung der EM-Rente, t₂ = kurzes Telefoninterview 12 Monate nach Bewilligung und t3 = Leitfadeninterview ca. 16 Monate später) durchgeführt, um die lebenslagen-, alters- und geschlechtsspezifische Verlaufskurvenentwicklung (Krankheitsverlaufskurve, Bewältigungs­verhalten, Inanspruchnahmemuster, Verschiebungen der persönlichen Zukunftsperspektiven, soziale Unterstützung usw.) und kritische Wendepunkte und Entscheidungsmuster zu rekonstruieren, die in die EM-Rente geführt haben und das weitere Verhalten in der EM-Rente bestimmen.

Wissenschaftliche und praxisbezogene Ziele

Das Hauptziel der Studie richtet sich auf die Rekonstruktion der alters- und geschlechts-spezifischen Verlaufskurvenentwicklung und deren äußere Determinanten (wie Arbeits-situation, Erwerbslosigkeit, Lebenslage, Krankheitsverlauf, kritische Lebensereignisse) aus der Sicht der Antragsteller, um Entscheidungsschritte und Entscheidungsmuster zu rekonstruieren, die in die EM-Rente geführt haben und das weitere Erleben und Verhalten innerhalb der EM-Rente bis zum ersten Weiterbewilligungszeitpunkt bestimmen.

Ein wesentliches praxisbezogenes Ziel der Studie ist die Identifikation von möglichen Interventionspunkten und geeigneten Hilfeangeboten, die Alternativen zu der EM-Berentung bieten und dabei die biografischen, krankheits- und lebenslagenspezifischen Konstellationen und die Besonderheiten alters- und geschlechtsspezifischer Bedarfslagen und Bewältigungsmuster in Rechnung stellen. Aus den biografischen Verlaufskurvenpotentialen und den identifizierten Konstellationen sollen Prädiktoren für rechtzeitige und akzeptierte Beratungsangebote und Interventionen gewonnen werden.